Warten auf "Pendolino"
Rheinsberger Attraktion kostet pro Fahrt 1000 Mark

Rheinsberg. Die beiden Damen auf dem Rheinsberger Bahnsteig haben keinen Blick für die Katze, die gerade im Loch der Streusandkiste verschwindet. Die Frauen im Kostüm, eine trägt Nadelstreifen, blicken zum Horizont, jeweils eine Hand über die Augen haltend. Die Sonne scheint ihnen auf den Rücken. In der anderen Hand hält jede Frau ein Handy. Als sie sich nach vergeblicher Ausschau wieder umdrehen, sind die blitzenden Schildchen am Revers zu sehen: "Adtranz" steht auf beiden. Ein doppeltes Empfangskomitee, entsandt von einem Rheinsberger Hotel? Aber in Rheinsberg gibt es kein Hotel, das "Adtranz" heißt. Nur ein "Atrium", aber warum sollte das falsch beschriftete Hostessen schicken? Ein Mann im dunklen Anzug, ebenfalls mit "Adtranz"-Schildchen und Handy ausgerüstet, geht zu den Frauen. "Ist noch nichts zu sehen", sagt die Dame im Nadelstreifenkostüm zu ihrem Kollegen. Wie nennt man eine männliche Hosteß? Hosteur? Die Männer und Frauen an den Tischen bei der Imbißluke beschäftigen sich mit anderen Fragen. Ein Mann mit Locken und Brille liest ein Papier vor, in dem Paragraphen und Wörter wie "Vereinszweck" und "Mitgliedschaft" vorkommen. Die anderen lauschen. Die Versammelten sehen nicht so aus, als seien sie zum Bahnhof gekommen, um jemanden abzuholen. Doch als die Nadelstreifendame aufgeregt ins Handy ruft, daß sie jetzt den Zug sieht und man doch die Gläser um Gottes willen füllen soll, bricht auch die gemütliche Runde beim Imbiß auf und begibt sich zur Bahnsteigkante. Der Mann mit der Brille holt einen Fotoapparat aus der Tasche und sprintet über die Schienen auf die andere Seite der Gleisanlagen. Auch er hat die Sonne im Rücken, aber ihn scheint sie nicht zu blenden: Er schaut ganz entspannt durch das Objektiv. Als der knallrote Zug mit den Fensterschildern "Premierenfahrt Oper ,Undine´ " gehalten halt, springen lauter festlich angezogene Menschen aus den Türen. Die beiden aufgeregten Empfangsdamen führen sie zum Bahnhofsvorplatz zu den Bussen. Die Männer und Frauen, die noch vor wenigen Minuten dem Fotografen zugehört haben, bleiben bei dem Zug, schauen neugierig hinein. "Für die Kammeroper interessieren wir uns heute abend nicht", erzählt der Mann mit der Kamera. Er heißt Volkmar Hilbert, ist von Beruf selbst Lokführer und Vorsitzender des frisch gegründeten Vereins "Arbeitsgemeinschaft Bahnhof Rheinsberg". "Wir sind hier, um den Pendolino zu sehen." "Pendolino", so heißt der Zug, der auf den ersten Blick ganz normal aussieht. Hilbert erklärt, daß sich der Triebwagen gegen die Fliehkraft stemmt, wenn es durch die Kurven geht. "Je nach Kurve pendelt er mal nach links, mal nach rechts." Wo es andere Züge bei gleicher Geschwindigkeit längst aus den Gleisen hauen würde, schwingt "Pendolino" locker durch. Die Idee ist italienisch, gebaut wurde "Pendolino" aber in Hennigsdorf. "Von der Firma Adtranz", lüftet der Vereinsvorsitzende das Geheimnis um die Hostessenschildchen. "Die haben ihre Geschäftsfreunde eingeladen zu einer Fahrt von Berlin nach Rheinsberg zur Premiere der Kammeroper", erklärt er noch. Für die Eisenbahnfreunde ist der "Pendolino" wichtiger als alle Opern, denn der Pendelzug kommt vorerst nicht mehr nach Rheinsberg. "Der wird vorwiegend auf den kurvenreichen Mittelgebirgsstrecken eingesetzt", weiß Hilbert. Zwischen Berlin und Rheinsberg gebe es schließlich nur eine Kurve, in der "Pendolino" zeigen kann, wie beweglich er ist.
Steffen Kastner
(MAZ (Ruppiner Tageblatt), 1997-07-31)


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